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Die Presse (Vienna, Austria), December 20, 1889, p. 9 (Influenza Article)

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pdf:  Die Presse 1889Dec20p9 Influenza article

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Influenza.
 Influenza heißt die Losung, die im Augenblicke allein
 Geltung hat und nach der wir all unser Denken, Reden und
 Handeln richten müssen. In keinem Kaffeeklatsch, an keinem
 Stammtisch, in keinem akademischen Hörsaale, in keiner politi ­
 schen Versammlung, in keinem Privatgespräche von Kaufleuten,
 Gelehrten, Parlamentariern, Richtern u. s. w. ist von etwas
 Anderm die Rede, als von ihr. Sie allein beherrscht Alles.
 An der Börse werden bereits Ultimo-Abschlüsse in Chinin
 gemacht. Keine Zeitungsnummer erscheint ohne spaltenlange
 Berichte über sie und ohne eine Anzahl unbedingt wirkungs ­
 voller Mittel zu ihrer Bekämpfung. Mit regem Eifer hat sich
 die Industrie ihrer bemächtigt. Was immer für ein Artikel es
 sei, den der oder jener Fabrikant herstellt, so öiet ist über
 jeben Zweifel erhaben, daß nur er den allersichersten Schutz
 gegen die Influenza gewährt. Der Gummiwaarcnsabrikant
 belehrt uns, daß lediglich das Tragen von Gummiröcken und
 detto Schuhen gegen die Krankheit festigt; aber der Verfertiger
 von wollenen Hemden beweist uns unwiderleglich, daß
 Jeder rettungslos der Krankheit erliegen müsse, der
 sich nicht „normal" kleidet. Schon schwanken wir bedenklich
 zwischen Gummi oder Wolle, da lesen wir plötzlich, daß
 nur das neue anti-miasmatische Zimmerlustreinigungs-Parfum
 wirkliches Vertrauen verdient, während uns gleich unmittelbar
 hinterher mit apodiktischer Bestimmtheit bewiesen wird, daß nur
 noch von dem vollständigen Einhüllen dcS ganzen Körpers in
 Baumwolle Rettung zu erwarten sei. Aber auch das läßt uns
 »och zu keinem festen Entschluß kommen, denn an einer anderen
 Stelle wird der siegreiche Nachweis geführt, daß ohne die soeben
 um Patent angemeldete neue hygienische Waschmaschine, die in
 einem Hause fehlen dürfe, jeder Kampf gegen die Epidemie
 aussichtslos sei. Unser Weinlieferant theilt uns im Vertrauen
 mit, er befinde sich in der glücklichen Lage, in seinem Cognac
 allein ein untrügliches Vorbeugungs-Elixir empfehlen zu können,
 gegen das alles Uebrige reiner Unsinn sei, und der Conditor
 läßt uns fragen, ob wir denn die Einzigen sein wollten, die
 von seinen nach dem Recept einer ersten medicinischen Auto ­
 rität bereiteten Salbei-Bonbons zur Unterdrückung der In ­
 fluenza keinen Gebrauch machen würden.
 Diese Epidemie, deren Ungefährlichkeit ja glücklicherweise
 feststeht, schadet weniger dem Körper, als der Seele. Sie ver ­
 dirbt den Charakter. Der sonst höchst gemüthvoll geartete
 Schullnabe kommt freudestrahlenden Gesichts »ach Haufe und

 erzählt der Mutter jubelnd, daß der Lateinlehrer Gott sei
 Dank die Influenza habe und daß sie in Folge dessen in
 Latein nichts „auf" hätten. Die mit ihren Weihnachtsstickcreien
 noch stark im Rückstand gebliebene höhere Tochter macht sich kein
 Gewissen daraus, durch ein zweckdienliches Hüsteln und ein recht
 auffällig um den Hals geschlungenes Tuch den Papa zu
 verleiten, ihr einen Entschuldigungszettel zu schreiben, auf
 Grund dessen sie wegen zu befürchtender Influenza einige
 Tage die Schule schwänzen kann. Wer sich aus Sparsamkeits ­
 rückfichten, die um diese Zeit wohl angebracht sind, seinen gesell ­
 schaftlichen Verpflichtungen entziehen will, der braucht nur
 etwas von der in seinem Hause grassirenden Influenza zu
 äußern, und man wird auf alle etwaigen Einladungen bei ihm
 gern verzichten.
 Mit anderen Krankheiten würde man kein so frivoles
 Spiel treiben, aber bei dem sozusagen mehr „humoristischen"
 Charakter der Influenza kann man sich dergleichen allenfalls
 gestatten.
 Sie ist nachgerade so in die Mode gekommen, daß man
 sich förmlich schämen mutz, wenn man vor Freunden und Be ­
 kannten zu dem Eingcständniß gezwungen ist, bis jetzt von
 jedem Ansall verschont geblieben zu sein.' Nur Leute, die mit
 ihrer Zeit nicht gleichen Schritt zu halten vermögen, setzen ihr
 Licht unverantwortlicherweise so weit unter den Scheffel, daß
 sie immer noch von Katarrh sprechen, wo Andere mindestens
 Grippe sagen würden. Wer aber von Natur zur Prahlerei
 neigt, der rühmt sich schon des bedenklichsten Stadiums der
 Influenza, wenn ihm nur ein Schluck Kaffee unrecht in die
 Kehle gekommen ist.